Franz Mehring -ein früher Wissenschaftsjournalist 

Wenn man von Franz Mehring spricht, meint man meist den  Historiker, der eine Geschichte der Sozialdemokratie verfasst hat oder den Literaturwissenschaftler, der sich in der Lessinglegende mit einem der Großen der deutschen Literatur auseinandergesetzt hat, natürlich auch den Marx-Biographen und nicht zuletzt den Philosophiehistoriker. Auf all diesen Gebieten hat er tatsächlich gewirkt, wobei ein Wesenszug seines Schaffens deutlich wurde: Er verbindet auf gekonnte Weise eine gezielte Recherche mit einer interessanten Darstellung. Es ist nicht die wissenschaftstheoretische Arbeit, auch nicht die Forschung des Spezialisten, es ist die Neugier des Journalisten, die ihn treibt.

Franz Mehring wurde am 27. Februar 1846 in Schlawe (Pommern) in der Familie eines Steuerbeamten geboren. Sein Vater, ein ehemaliger Offizier, erzog den Sohn in Preußentreue und einer strengen protestantischen Ethik. An den Gymnasien von Stolp und Greiffenberg und den Universitäten in Leipzig und Berlin erwarb er sich fundierte Kenntnisse, ohne seinen Bildungsweg jedoch zu beenden. 1869 brach er das Studium ab und begann als Journalist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften zu arbeiten. Die erste selbständige Schrift Mehrings erschien 1875 unter dem Titel Herr von Treitschke der Sozialistentödter und die Endziele des Liberalismus. Die darin sichtbare aufgeschlossene Haltung gegenüber der jungen Sozialdemokratie schlug jedoch bald in eine kritische Distanz um. Mehring hatte sich im Kampf gegen Erscheinungen der Korruption in der Presse öffentlich gegen Leopold Sonnemann gewandt, den Herausgeber der Frankfurter Zeitung. Führende Sozialdemokraten, die in Sonnemann einen Bundesgenossen sahen, wandten sich daraufhin gegen Mehrings öffentliche Angriffe. Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre veröffentlichte Mehring daher keinen Artikel mehr in einer sozialdemokratischen oder radikaldemokratischen Zeitung. Im Gegenteil: Eine Artikelserie aus dem Jahre 1876 gestaltete er zu einer Broschüre mit dem Titel Die deutsche Sozialdemokratie, ihre Geschichte und ihre Lehre und wurde damit zu einem vielzitierten Kritiker der Sozialdemokratie.

Seine Beschäftigung mit der Pariser Kommune von 1871, die kritische Auseinandersetzung mit Adolf Stoecker (1835-1909) und dessen Versuchen, eine christlich-soziale Arbeiterpartei zu gründen, vor allem aber die zunehmend ablehnende Haltung gegenüber dem Sozialistengesetz ließen Mehring schrittweise wieder an die Sozialdemokratie heranrücken. Seit 1884 als Mitarbeiter und seit 1886 als Chefredakteur der Berliner Volkszeitung, übte er zunehmend Kritik an der Handhabung des Sozialistengesetzes. Nach dem Sturz dieses Gesetzes verwies Mehring auf die großen Opfer: Nach einer ungefähren Statistik waren unter dem Sozialistengesetze 1300 periodische und nichtperiodische Druckschriften und 332 Arbeiterorganisationen der einen oder anderen Art verboten worden. Ausweisungen aus den Belagerungsgebieten waren gegen 900 erfolgt, von denen über 500 Ernährer von Familien betroffen hatten; auf Berlin fielen 293, auf Hamburg 311, auf Leipzig 164, auf Frankfurt 71, auf Stettin 53, auf Spremberg 1 ... Die Höhe gerichtlich verhängter Freiheitsstrafen belief sich auf etwa 1000 Jahre, die sich auf 1500 Personen verteilten. Ebenso deutlich machte Mehring aber auch den Gewinn sichtbar, der für die Sozialdemokratie entstanden war: Beim Erlaß des Sozialistengesetzes besaß die Partei 437 158 Wahlstimmen und 42 politische Blätter, zählten die gewerkschaftlichen Organisationen 50 000 Mitglieder und 14 Organe, beim Erlöschen des Sozialistengesetzes musterte die Partei 1 427 298 Wahlstimmen und 60 politische Blätter, musterten die gewerkschaftlichen Organisationen über 200 000 Mitglieder und 41 Organe ... Voller Stolz schrieb er daher in seiner Geschichte der Sozialdemokratie: Sie war in den Kampf gezogen, ein Jüngling mit schnell aufgeschossenen Gliedern, mit manchen schwärmenden Gedanken im Kopf: als sie heimkehrte, war sie ein muskelkräftiger und wettergehärteter Mann, entschlossen, fertig, klar, gewachsen welch Höchstem immer.

Mehring wurde mit den sozialdemokratischen Führern August Bebel (1840-1913), Paul Singer (1844-1911) und Wilhelm Liebknecht (1826-1900) bekannt und veröffentlichte 1888 einen ersten Artikel in der Neuen Zeit, der theoretischen Zeitschrift der Sozialdemokratie. Zum ständigen Mitarbeiter dieser "Revue des geistigen und öffentlichen Lebens" wurde er ab 1891. In diesem Jahr trat er auch der sozialdemokratischen Partei bei. "Bei der heute erreichten Höhe geschichtlicher Entwicklung ist es nicht mehr möglich, sich straflos dem Irrtum hinzugeben, als ob eine wirksame Bekämpfung des Kapitalismus auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft von heute überhaupt noch möglich sei. Wer heute in der bürgerlichen Klasse geboren und erzogen ist, muß entweder den Kapitalismus mit Haut und Haaren annehmen, oder wenn er diesem Landschaden wirklich die Faust an die Kehle und das Knie an die Brust setzen will, so muß er den bürgerlichen Staub von seinen Pantoffeln schütteln und seinen Rückzug auf die Arbeiterklasse nehmen. Es giebt nur noch dies Entweder - Oder, falls es überhaupt je ein anderes gegeben haben sollte", schrieb er über seine Entscheidung.

Von 1902 bis 1913 war er als Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung tätig, von 1906 bis 1911 wirkte er als Lehrer für Geschichte an der zentralen Parteischule der Sozialdemokratie in Berlin. Große Verdienste erwarb er sich auch als Herausgeber von Werken verschiedener sozialistischer Schriftsteller; das Spektrum reichte von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) über Friedrich Albert Lange (1828-1875), Jean Baptist von Schweitzer (1834-1875), Wilhelm Weitling (1808-1871) und Wilhelm Wolff (1809-1864) bis Antonio Labriola (1843-1904) und Ferdinand Lassalle (1825-1864). Seine Hinwendung zur Biographie von Karl Marx begründete er so: ?Wäre Marx in der Tat der langweilige Musterknabe gewesen, den die Marxpfaffen in ihm bewundern, so hätte es mich nie gereizt, seine Biographie zu schreiben. Meine Bewunderung wie meine Kritik - und zu einer guten Biographie gehört die eine wie die andere in gleichem Maße - gilt dem großen Menschen, der nichts häufiger und nichts lieber von sich bekannte, als daß ihm nichts Menschliches fremd sei. Ihn in seiner mächtig-rauhen Größe nachzuschaffen, war die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte.

Da Mehring sich in den inneren Auseinandersetzungen der Partei auf die Seite der Linken stellte, verlor er sein publizistisches Wirkungsfeld in der Neuen Zeit und in der Leipziger Volkszeitung. Er schloss sich 1916 dem Spartakus-Bund an, engagierte sich für die russische Revolution und schrieb intensiv an seiner Marx-Biographie, die 1918 herauskam. Am 28. Januar 1919 starb Franz Mehring im Sanatorium Grunewald bei Berlin..

Als Friedrich Engels die Lessing-Legende von Mehring gelesen hatte, schrieb er zustimmend an August Bebel*: "Die Arbeit ist wirklich ausgezeichnet. Ich würde manches anders motivieren und nuancieren, aber im ganzen und großen hat er den Nagel mitten auf den Kopf getroffen. Es ist doch eine Freude, wenn man sieht, wie die materialistische Geschichtsauffassung ... endlich anfängt, als das benutzt zu werden, was sie eigentlich war: ein Leitfaden beim Studium der Geschichte."

Tatsächlich hatte Mehring seiner Arbeit über Lessing und das zeitgenössische Lessingbild im Anhang eine kleine Studie Über den historischen Materialismus beigefügt. Jeder sollte klar sehen, auf welchem Boden er stand und von welchen Positionen aus er seine Studien betrieb. Auch der Untertitel wies die Stoßrichtung der Untersuchung und Polemik: "Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen deutschen Literatur". Diese konsequente Anwendung des historischen Materialismus sollte fortan die Methode seines Arbeitens sein. Das zeigte sich in solchen Kampfschriften wie Herrn Hardens Fabeln (1899) gegen Maximilian Harden (1861-1927) oder Weltkrach und Weltmarkt (1900) ebenso wie in der historischen Schrift Jena und Tilsit. Ein Kapitel ostelbischer Junkergeschichte (1906) oder seiner Schiller-Biographie aus dem Jahre 1905. Vor allem aber wurde das deutlich in seinen großen Arbeiten, der Geschichte der Sozialdemokratie (1898), der Deutschen Geschichte vom Ausgang des Mittelalters (1910) und der Marx-Biographie. Hier zeigte er immer wieder, wie wichtig es ihm war, die einmal akzeptierten Grundpositionen von Marx und Engels anzuwenden. Das führte ihn nicht selten zu Übertreibungen und wohl auch Einseitigkeiten.

In seinem Schaffen traten drei Komplexe immer wieder hervor: Das war einmal die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen, insbesondere der preußisch-deutschen Geschichte. Das war zum zweiten die Aufarbeitung und Bewertung der jungen Geschichte der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie und ihrer Persönlichkeiten von Weitling über Lassalle bis Marx. Zum dritten war das die Aufbereitung des kulturellen Erbes für die lernwilligen Arbeiter - hier reichte das Spektrum von der klassischen deutschen Philosophie bis Schiller und Heine, von ästhetischen Streifzügen bis zu Einführungen in Theaterstücke und Opern. Rosa Luxemburg (1870-1919) schrieb 1916 in einem Brief an Mehring folgende, wohl treffende Würdigung: "Sie stehen bei uns seit Jahrzehnten auf einem eigenen Posten, den niemand außer Ihnen verwalten kann: Sie sind der Vertreter der echten geistigen Kultur in all ihrem Glanz und Schimmer ... Sie lehrten unsere Arbeiter durch jede Zeile aus Ihrer wunderbaren Feder, daß der Sozialismus nicht eine Messer-und-Gabel-Frage, sondern eine Kulturbewegung, eine große und stolze Weltanschauung sei."

 

Eberhard Fromm